Der Volksmusik auf den Fersen

(c) Volkskultur NÖ

Archive sind Tore in die Vergangenheit. Sie heben auf, was für die Geschichte von Gemeinschaften von bleibendem Interesse ist. Unter ihnen gibt es Musikarchive, die sich auf Notenmaterialien zu verschiedenen Schwerpunkten konzentrieren. Zur Familie der Musikarchive gehören die Volksliedarchive. Sie legen seit mehr als hundert Jahren ihr Augenmerk auf Volkslieder, Volksweisen und Tanzmelodien wie Walzer, Polkas, Mazurkas, Ländler, wie sie in jedem Bundesland Österreichs überliefert werden. Der Sammelschwerpunkt des Volksliedarchivs der Volkskultur Niederösterreich – kurz NÖ Volksliedarchiv – liegt auf Niederösterreich und seine angrenzenden Regionen. 1904 wurde der Startschuss zur Sammlung von Volksliedern und Volksweisen gegeben. Damals mutete man den Volksliedern zu, das verbindende Element in einem auseinanderdriftenden Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn zu sein, wenn man sie nur akribisch nach Kronländern und Sprachgruppen sammelte und die Menschen zu deren Pflege aufmunterte. Diese von Seiten des Staates initiierte Sammelbewegung am Beginn des 20. Jahrhunderts war nicht die erste. Schon im 18. Jahrhundert erwachte das Interesse an Volksliedern und das Sammeln verfolgte einen bildungspolitischen Zweck: Nach damaligem Konsens drückte sich das Edle und Schöne in den kulturellen Äußerungen der einfachen Menschen draußen im naturverbundenen  Lebensraum am Land am unverfälschtesten aus.

Durch den Einfluss der Moderne bis hinein in die verwinkelten Regionen und verborgenen Orte befürchtete man allerdings, dass die „Kultur des Landvolkes“, darunter ihre Lieder und Gebräuche, verloren gehen könnte. Was heute im NÖ Volksliedarchiv in der NÖ Landesbibliothek in St. Pölten jedermann zur Recherche zur Verfügung steht, baut auf diesen ersten organisierten bzw. zufälligen Sammlungen auf. Sammler und fallweise auch Sammlerinnen waren mit Bleistift und Papier sowie mit einem guten Gehör ausgerüstet. Manchmal hatten sie auch einen Phonographen dabei, der den Gesang vor Ort auf einer Wachswalze festhalten konnte. Auf stattliche 60.000 Notenblätter mit Liedern und Weisen ist der handschriftliche Bestand im Volksliedarchiv nunmehr angewachsen und er wächst noch weiter, wenn auch durch gelegentliche sogenannte „Dachbodenfunde“ nur mehr langsam. Das Magazin füllte sich seit den Anfängen außerdem mit zahlreichen analogen Informationsträgern von der Schellack bis zur Vinylplatte, vom Tonband bis zur Musikkassette, und mit digitalen Daten auf CDs, DAT-Bändern und Festplatten.

Das Volksliedarchiv ist also schon längst in der digitalen Welt angekommen. Archivmaterialien lagern in den Rollregalen des Magazins ebenso wie auf Servern. Diese Fülle an Materialien in einer vertretbaren und vernünftigen Zeit zur Recherche zur Verfügung zu stellen, also die wesentlichen Verknüpfungen zwischen den einzelnen Informationen herzustellen und sie lesbar zu machen ist die größte und spannendste Herausforderung der archivarischen Arbeit im Volksliedarchiv. Sammeln, ordnen, verzeichnen und bewahren – und das nach den jeweils gültigen Standards – sind der Schlüssel, der den Zugang zum Archiv aufschließt. Das NÖ Volksliedarchiv ist der volksmusikalische Gedächtnisspeicher Niederösterreichs. Hier werden neben den Volksliedern und den Instrumentalstücken auch Informationen zu den Musizierenden, zu Musikgruppen und deren Besetzungen sowie zu Veranstaltungen im Bereich der Volksmusik gesammelt. Vermehrt finden in jüngster Zeit Vor- und Nachlässe von Volksmusikanten oder Volksliedsammlern bzw. -forschern den Weg ins Archiv.

Die Bestände des NÖ Volksliedarchivs sind vor Ort im Archiv recherchierbar sowie über die Internetplattform der Volkskultur Niederösterreich. Für Archivbenützerinnen und Benützer stehen hier die betreuenden Archivmitarbeiter im Lesesaal der NÖ Landesbibliothek im Regierungsviertel Rede und Antwort. Wer in den Beständen lieber bequem von Zuhause aus stöbern will, steigt in den Katalog des NÖ Volksliedarchivs in die Recherche ein. Wahlweise kann die Suche auch auf alle Volksliedarchive in Österreich ausgeweitet werden.

Die lebendige und gelebte Kultur ist den Archiven zwar naturgemäß einen Schritt voraus. Die Archive geben aber einen Blick auf die Spuren frei, die jede Kultur hinterlässt und wodurch die Richtung erkennbar wird, in die die Menschen gehen.