Friede durch Singen und Musizieren
– ein Traum

Chorsänger
(c) Chorverband Salzburg

Diejenigen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, sehen, dass viele junge Menschen offenbar mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Untersuchungen über die psychische Gesundheit unter Jugendlichen sprechen eine eindeutige Sprache, die uns zu denken geben sollte. Warum tut gemeinsames Singen und Musizieren so gut, warum ist es so wichtig? Eine Annäherung aus dem praktischen Alltag: „Wir richten uns auf“ – man nimmt eine andere Haltung ein als jene, die wir so oft sehen: über das Mobiltelefon gebeugt, Wirbelsäule gekrümmt, Schultern hochgezogen. In den Körperübungen vor dem Singen spüren wir unsere Spannungen, unsere unnatürlichen Haltungszustände, es lösen sich im besten Falle Verkrampfungen, ich spüre meinen Atem, von dem so viel neue Lebenskraft kommt. Durch das Bewusstwerden gesunder Atmung nehme ich mich selber, nehme ich mein Inneres wahr. Nicht mehr irgendein elektronisches Gerät oder eine Testung sagt mir „von außen“, wie es mir geht, ich spüre mich selber. Wir kennen das wohl alle: Müdigkeit wird durch mangelnde Bewegung, durch mangelnden Sauerstoff noch verstärkt. Nach einem „Aufraffen“ spüre ich, wie wieder neuer Lebenssaft durch mich hindurchströmt. Es wird hier nur angedeutet, was alles passiert, noch bevor ich meine Stimme zu aktivieren begonnen habe. Das Wort „Person“ kommt von „per-sonare“, durchklingen, das heißt: Der Klang meiner Stimme sagt viel über meine Persönlichkeit aus, noch mehr: Die Entwicklung meiner Persönlichkeit passiert – auch – über meinen inneren Klang, der nach außen kommen will und darf.

(c) Michael Klecker

Ich erhebe meine Stimme, ich habe ein „Stimmrecht“ – unsere Sprache leitet uns so wunderbar hin zur Bedeutung des Vorgangs, seine Stimme zu „entwickeln“ und damit seiner Entwicklung eine positive Richtung zu geben. Durch das Erklingen meiner Stimme kann ich „in Stimmung“ kommen, meine Stimmung hebt sich. „Es stimmt“ – ich kann an meiner Stimme und an der meiner Mitsängerinnen und -sänger hören, ob etwas „wahr“ ist, „übereinstimmt“. Damit bin ich beim „Zuhören“: Wie schön ist es, wenn Menschen einander „wirklich“ zuhören können, daraus kann auch eine „Zugehörigkeit“ ein „Zusammengehören“ werden. Singen stiftet Gemeinschaft: Wer es erlebt hat, weiß, welche gemeinschaftsfördernde Kraft ausgeht vom Singen und Musizieren in Gemeinschaft. Die Bedeutung dieses Themas kann gesellschaftlich gesehen nicht hoch genug eingeschätzt werden.

„Nichts kann zum Verständnis von Musik mehr beitragen als sich hinzusetzen und selbst Musik zu machen!“ Viele kennen diesen Spruch des großartigen Dirigenten und Musikpädagogen Leonard Bernstein. Ich möchte dem noch hinzufügen: Gemeinsame Erfahrungen im Zusammenspiel, im Singen und Musizieren können für Kinder und Jugendliche lebensbestimmende, lebensverändernde, vor allem aber lebensbejahende Erlebnisse werden. Und diese „wesentlichen“, „lebensspendenden“, „wirklichen“ Erfahrungen sind vor allem jetzt dringend „not-wendig“, wie viele Menschen, die täglich mit Kindern und Jugendlichen zusammen sind, wahrscheinlich bestätigen werden. Es gibt unzählige wissenschaftliche Untersuchungen über die Bedeutung des (gemeinsamen) Musizierens von Kindern und Jugendlichen. Es sind kostbare, ihren Wert nicht verlierende Perlen, die wir den Kindern und Jugendlichen geben können, wenn wir sie für Musik begeistern. Im speziellen Fall des Mozartkinderorchesters und des Landesjugendorchesters geht es um die besonders begabte, die besonders interessierte, die besonders für Musik empfängliche Jugend.

Ich habe in meiner Tätigkeit als Dirigent des Landesjugendorchesters Salzburg viele junge Musikerinnen und Musiker erlebt, die durch das Orchesterspiel ihre Motivation für das Weiterlernen am Instrument behalten haben, ich habe einen Kontrabassisten vor meinem Auge, der jetzt in einem Spitzenorchester engagiert ist: Er ist durch das Jugendorchester „am Ball“ geblieben. Oder eine Fagottistin, die über das Orchesterspiel die Begeisterung für ihr Instrument so vertiefen konnte, dass sie jetzt bei einem renommierten Professor studieren kann. Wie viele Beispiele gäbe es aufzuzählen von jungen Menschen, die auch durch die Begeisterung, die sie in einem Jugendorchester (wenn es „entsprechend“ geführt ist) erlebt haben, ihren Weg als Musikerin, als Musiker gefunden haben. Es geht aber noch viel weiter und tiefer: Wie viele junge Menschen haben sich persönlich (personare – durch–klingen, das erlebst du, wenn du im Orchester z. B. als Bratscher am letzten Pult spielst) weiterentwickeln dürfen und für ihr ganzes Leben profitiert: Sie haben gelernt, zuzuhören – wie gut wäre es für uns alle, würden wir sensibler zuhören!! – sie haben gelernt, sich in eine Gemeinschaft einzufügen und gleichzeitig die eigene Stimme zu finden und zu „ent-wickeln“ – welch schönes Modell für unsere Gesellschaft. Es kann hier unmöglich alles beschrieben werden, was in Kinder- und Jugendtagen bei Orchestererlebnissen passieren kann. Jede und jeder, die/der es erlebt hat, weiß, wie intensiv und wertvoll es sein kann. Wir haben in den Coronazeiten erlebt, welche Entscheidungen möglich sind, wenn es um wirklich Lebensnotwendiges geht. Es war möglich, unzählige Masken anzuschaffen, um uns alle zu schützen. Jetzt ist es Zeit, dass wir unseren Kindern und Jugendlichen wieder die Möglichkeit (zurück-)geben, sich auszudrücken, sich frei zu artikulieren, zu singen und zu spielen, vor allem: gemeinsam. Auch hier geht es um Lebensnotwendiges! Der Philosoph Byung-Chul Han spricht über unsere Zeit: von „Kommunikation ohne Gemeinschaft“, von einer „Erosion der Gemeinschaft“ und von „kollektivem Narzissmus“. Was wir bitter nötig haben, ist: Gelegenheiten, in wirklicher Gemeinschaft tiefe verbindende Emotion zu erleben. Singen und Musizieren ist keine unwichtige Nebenangelegenheit, sondern für unsere Gesellschaft wesentlich.

Viele von uns sind fast pausenlos verbunden mit dem Internet. Neben sehr nützlichen und praktischen Möglichkeiten sind wir extrem beeinflusst „von außen“ und in Gefahr – vor allem Kinder und Jugendliche, wie ich meine – uns selbst zu verlieren und unsere „innere Stimme“ nicht mehr zu hören. Jetzt erleben wir in Europa wieder eine gemeinsame Kraftanstrengung, wenn es darum geht, Waffen zu liefern und Munition zu erzeugen. Erkennen wir endlich, dass Friede nur entstehen kann, wenn wir uns darum kümmern, dass Kinder sich selbst, ihren innersten, „guten“, „heilen“ Kern kennen und lieben lernen und aus dieser positiven Kraft fähig werden, in Liebe und Frieden zu begegnen und zu leben.

(Norbert Brandauer)

Ursprünglich erschienen im Mai 2023 in „Salzburger Volks.kultur“ – 47. Jahrgang