Wenn Dankbarkeit sichtbar wird

Wenn Dankbarkeit sichtbar wird

Neusiedl in der Gemeinde Langenrohr wurde erstmals im Jahr 1280 urkundlich erwähnt. Sein Name leitet sich von der Bedeutung „beim neu angelegten Siedlungsgebiet“ ab. Dieses ursprüngliche Bauerndorf wurde über die Jahrhunderte zur Heimat für rund 220 Einwohnerinnen und Einwohner.

Im vergangenen September fand in Neusiedl eine Feldmesse zur Einweihung des neu errichteten Marterls statt – ein Denkmal, das über den Sommer desselben Jahres errichtet wurde. Was bewegt eine Dorfgemeinschaft im 21. Jahrhundert dazu, ein neues Marterl zu errichten – und das in einem Ort, der bereits über vier Denkmäler verfügt?

Die Antwort darauf führt zurück in den September 2024. Am 13. September wurde eine Unwetterwarnung herausgegeben: Innerhalb kürzester Zeit sollte eine Niederschlagsmenge von 200 Millimetern fallen. Für die Einwohnerinnen und Einwohner Neusiedls klang das zunächst unvorstellbar. Stunden später zeigte sich die dramatische Realität: 400 Millimeter Regen ergossen sich über die Gemeinde – doppelt so viel wie vorhergesagt.

Während in den umliegenden Ortschaften bereits fieberhaft Sandsäcke gefüllt und Barrieren errichtet wurden, eilten zahlreiche Neusiedlerinnen und Neusiedler zu Hilfe. Niemand wusste zu diesem Zeitpunkt, dass schon bald auch ihr eigenes Dorf in Gefahr sein würde. Am 16. September folgte schließlich der Moment, vor dem alle insgeheim Angst gehabt hatten: Die Behörden ordneten die Evakuierung Neusiedls an. Die Wetterdienste warnten, dass der Fluss Perschling in Kürze eine Flut führen würde. Man sprach von einer bis zu eineinhalb Meter hohen Flutwelle, die sämtliche Schutzmaßnahmen wirkungslos machen würde. Binnen weniger Stunden mussten alle das Dorf verlassen. Im Messegelände Tulln fanden die Evakuierten vorübergehend Zuflucht. Dort herrschten Angst, Ungewissheit und Sorge um das eigene Zuhause. Gemeinsame Gebete spendeten in dieser Nacht Trost.

Am nächsten Tag die überraschende Meldung: Neusiedl entging dem Unheil. Der Damm brach nicht an der vorhergesagten Stelle, sondern bereits einige hundert Meter davor. Dadurch konnten die noch verbleibenden Wassermassen von den erhöhten Feldwegen aufgefangen und gestoppt werden. Dieses unerwartete Geschehen berührte viele Neusiedlerinnen und Neusiedler zutiefst. Der Organisator des neuen Marterls, Herbert Zöchbauer, berichtet, was sich in diesem Moment viele fragten: „Warum haben wir so ein Glück gehabt? Vielleicht hat doch jemand ein wenig auf uns geschaut. Und die nächste Fragestellung war: Wie antworten wir auf dieses Glück?“.

Schnell stand fest: Es braucht einen sichtbaren Ausdruck des Dankes. Und was könnte dafür passender sein als ein Marterl? Schon bald fanden sich zahlreiche engagierte Helferinnen und Helfer, um die Idee in die Tat umzusetzen.

Mit Unterstützung der Berufsschule Langenlois, welche regelmäßig Projekte im Bereich Denkmalbau realisiert, sowie mit tatkräftiger Hilfe vieler freiwilliger Neusiedlerinnen und Neusiedler, konnte das Vorhaben Schritt für Schritt Gestalt annehmen.

Vom Einebnen der Fläche über die Betonierung des Fundaments, den Zusammenbau der vorgefertigten Module, bis hin zur Begrünung des Umfelds, Dachdeckung und Fassadengestaltung – jeder einzelne Arbeitsschritt wurde ehrenamtlich ausgeführt.

Auch in der Gestaltung der Details spiegelt sich dieser Dank wider. Das Marterl wurde an einem Windschutz zwischen den Feldern Neusiedls errichtet – genau dort, wo die Feldwege einst den Wassermassen Einhalt geboten hatten. Es ist in Richtung des Dorfes ausgerichtet, als Symbol des Schutzes und der Geborgenheit. Im Zentrum des Denkmals befindet sich eine Figur des heiligen Johannes von Nepomuk, der als „Brückenheiliger“ traditionell als Schutzpatron vor Wassergefahren verehrt wird. Die weiteren drei Nischen beherbergen ein blaues Glaskreuz, eine Inschrift des Verschönerungsvereins Neusiedl sowie ein Hinterglasbild des heiligen Christophorus.

Marterl im 21. Jahrhundert

In vergangenen Jahrhunderten nahmen außergewöhnliche Ereignisse die Bevölkerung immer wieder zum Anlass, als Ausdruck von Dankbarkeit oder als Mahnung ein solches Denkmal zu errichten. Damals lebten die Menschen in einer weniger schnelllebigen und stärker verbundenen Zeit. Gemeinschaftliche Projekte entstanden oft spontan und selbstverständlich. Heute ist das anders: Die Gesellschaft wirkt vielerorts distanzierter, und auch der religiöse Hintergrund, der einst eine zentrale Rolle spielte, verliert zunehmend an Bedeutung.

Was früher als gewöhnliche Form der Zusammenarbeit galt, ist heute zu einer Besonderheit geworden. Es kommt längst nicht mehr jedes Jahr vor, dass ein neues Marterl errichtet wird. Umso bemerkenswerter ist es, dass jedes Mal, wenn tatsächlich wieder ein neues Marterl entsteht, ein wahres Lauffeuer der Begeisterung entfacht wird, wie Beteiligte es beschrieben.

Ob durch tatkräftige Unterstützung beim Bau oder durch das verstärkte Engagement in der Pflege bestehender Denkmäler, immer wieder lässt sich beobachten, dass ein solches Projekt die Dorfgemeinschaft neu belebt.

So berichtet Herbert Zöchbauer uns von zahlreichen Beispielen dieser Art. Besonders beeindruckt zeigte er sich von der Einsatzbereitschaft der Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner von Neusiedl, die unzählige Stunden in das Projekt investierten.