Nostalgie

(c) Clemens Suchocki

Die Bedeutung der Erinnerung

Oldtimer bei der Retzland Classic 2024 am Brandlhof

Nostalgie ist mehr als bloße Sehnsucht nach vergangenen Zeiten. Sie ist eine komplexe Empfindung, die uns ebenso mit Wehmut wie mit Freude erfüllen kann. Manchmal ist sie Zerstreuung und Eskapismus, ein anderes Mal gewissenhafte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Oft sind nostalgische Gefühle eng mit unserer eigenen Geschichte verknüpft, verbinden uns aber zugleich auch mit anderen Menschen – nicht selten mit solchen, mit denen wir sonst kaum Berührungspunkte haben.

Bei der Oldtimer-Rallye Retzer Land Classic, zu der jedes Jahr verschiedenste historische Fahrzeuge aus 60 Jahren Automobilgeschichte nach Niederösterreich kommen, begrüßen die Organisatoren Clemens Suchocki und Oliver Suchocki Fahrerinnen und Fahrer unterschiedlichster beruflicher und kultureller Hintergründe, die alle eines vereint: die Liebe zu den „beweglichen Museen“, in denen sie gemeinsam durch das Weinviertel fahren.

Jedes Auto hat eine Geschichte, jede Lenkerin und jeder Lenker begibt sich auf eine kollegiale Zeitreise. Da wird fachgesimpelt, Anekdoten werden ausgetauscht – vor allem aber wird die gemeinsame Freude an der Erinnerung gefeiert. Und das ist nicht weniger als die psychologische Definition des Begriffs „Nostalgie“.

Psychologen wie der niederländische Nostalgieforscher Tim Wildschut beschreiben Nostalgie als eine positive, aber oft auch bittersüße Empfindung, die durch vertraute Gerüche, Musik oder Gegenstände ausgelöst wird. Gegenstände die an vertraute Zeiten erinnern.

Annabel Kail bei der Arbeit, (c) Manuela Mörzinger

Wie die Keramik von Annabel Kail aus Krems an der Donau. Ihre keramischen Werke tragen eine tief verwurzelte Symbolik in sich. Schon seit ihrer Kindheit begleitet sie eine Verbundenheit zum Keramikhandwerk.

Ihre Reise führte sie an die Keramikschule Landshut, wo sie das Handwerk vertiefte. Heute, als Keramikermeisterin, begibt sie sich auf die Suche nach neuen Wegen der Gestaltung, die oft nostalgische Tiefe in sich tragen.

Durch die subtile Verwendung traditioneller Formen, handgefertigter Oberflächen und erdiger Farbtöne lässt Annabel Kail eine Ästhetik entstehen, die an die Kunst vergangener Epochen anknüpft. Besonders markant ist ihre bewusste Entscheidung, Imperfektion als Stilmittel zu nutzen – kleine Unregelmäßigkeiten und sichtbare Spuren der Handarbeit verleihen ihren Stücken eine Authentizität, die an die Sehnsucht nach achtsamem Handwerk erinnert.

Der Sehnsucht nach langsameren Zeiten folgen auch die zahlreichen Besucherinnen und Besucher, die jedes Jahr nach Röschitz kommen, um im Raritäten-Privatmuseum von Emmerich Grath und seiner Gattin Anneliese in vergangene Zeiten einzutauchen. Ganzjährig täglich gegen Voranmeldung geöffnet, beherbergt das Museum über 5000 Exponate auf zwei Etagen und einem Freigelände.

Emmerich Grath vor seinem Röschitzer Raritäten Museum

Das dörfliche Leben, Sitten und Bräuche im Weinland werden ebenso gezeigt, wie das traditionelle Handwerk, und historische Motorräder von 1926 bis 1970, Mopeds, Traktoren und Landmaschinen. Auch Foto- und Filmkameras aus dem letzten Jahrhundert sowie über 100 historische Radios und Elektronikgeräte bis zum Detektor, Puppenspielzeug und die Installation einer alten Volksschule vermitteln einen Eindruck des Weinviertels vergangener Tage.

Aus historischer Sicht spielt Nostalgie also eine bedeutende Rolle. Sammlerinnen und Sammler erhalten mit ihren Erinnerungsstücken nicht nur vergangene Gefühle, sondern auch ein Stück Zeitgeschichte. Besonders in Zeiten des Umbruchs sehnen sich viele Menschen nach vertrauten Werten und Traditionen, was sich in Musik, Mode und Filmen widerspiegelt. Retro-Trends sind oft Ausdruck eines kollektiven Bedürfnisses nach Stabilität.

Diesem Umstand widmete sich auch der deutsche Psychologe Gernot Schiefer, der 2021 in einer Abhandlung die psychologischen Auswirkungen nostalgischer Erinnerungen und deren Einfluss auf das Wohlbefinden untersuchte. Darin beschrieb Schiefer Nostalgie als Bewältigungsstrategie für Depressionen und zeigte im Rahmen einer Vergleichsstudie auf, dass nostalgische Menschen tendenziell glücklicher sind, da die Erinnerung an Vergangenes das Gefühl von Zugehörigkeit und Selbstvertrauen stärkt.

Scheinbar kann Nostalgie also tatsächlich dabei helfen, schwierige Zeiten besser zu bewältigen. Die Beschäftigung mit historischen Gegenständen scheint uns vor Augen zu führen, dass wir als Gesellschaft vergangene Herausforderungen kontinuierlich gemeistert und dabei positive Einflüsse hinterlassen haben – Einflüsse, die von nachfolgenden Generationen aufgegriffen und zu Traditionen wurden. So auch die Tradition des Lilienporzellans in Wilhelmsburg.

„Daisyworld“ in Wilhelmsburg zVg Wilhelmsburger Geschirr-Museum

 

Die Geschirrherstellung hat hier eine über 200-jährige Geschichte. Mit der Weiterführung dieser Handwerkskunst setzt das heute unter dem Namen „Daisyworld“ firmierende Museum einen bewussten Schritt in Richtung Erhalt historischer Techniken und Designs. Die Reproduktion und behutsame Weiterentwicklung der traditionellen Designs tragen dazu bei, die kulturelle Identität des Keramikhandwerks zu bewahren und einem neuen Publikum zugänglich zu machen. Ein Praxisbeispiel dafür, dass Nostalgie ein Mittel sein kann, um bewährte Handwerkskunst in die Gegenwart zu übertragen.

Die bewusste Einbindung der Vergangenheit in die Gegenwart stellt dabei nicht nur im Handwerk einen Weg zur Weiterentwicklung dar. Der Nostalgieforscher Constantine Sedikides stellt in diesem Zusammenhang die These auf, dass sowohl Museen und Kulturdenkmäler als auch Sammlungen nostalgischer Gegenstände und Zeitdokumente eine entscheidende Rolle in der Identitätsfindung einer Gesellschaft spielen.

Ein altes Foto, ein vertrautes Lied oder ein Spielzeug aus der Kindheit können uns augenblicklich in eine andere Epoche versetzen und längst vergessene Emotionen hervorrufen. Das bewusste Festhalten an Erinnerungen kann so nicht nur Freude bereiten, es kann zur Brücke in eine vergangene Zeit werden, die uns hilft, die gegenwärtige zu verstehen.

Eine solche Brücke können Veranstaltungen sein, die es ermöglichen, Nostalgie aktiv zu erleben – wie der 1. Niederösterreichische Nostalgiemarkt, der am 1. Juni im Brandlhof und Kulturpavillon Radlbrunn und darüber hinaus stattfinden wird. Hier wird Geschichte greifbar gemacht: Kunsthandwerk, Straßenkunst und Musik laden dazu ein, eine Reise in die Vergangenheit zu unternehmen. Ein historisches Karussell, stilvolle Oldtimer und das wertvolle Schauhandwerk erinnern uns daran, wie wichtig es ist, Traditionen zu bewahren und gleichzeitig neue Erinnerungen zu schaffen.

Vielfalt ist dabei Programm: Das historische Zweirad, das am Nostalgiemarkt im Brandlhof zu sehen sein wird, oder die vertrauten Lieder, die zugleich im Kulturpavillon erklingen werden, sind vollkommen unterschiedliche Zugänge zum Begriff Nostalgie, einen uns aber durch das wohlige Gefühl der Vertrautheit, das sie in uns auslösen.

Am 1. Juni können wir die Oldtimer der Retzer Land Classic in Aktion erleben, oder Annabel Kail beim Töpfern über die Schulter schauen. Wir dürfen ein historisches Zweirad aus der Sammlung von Emmerich Graths Raritäten-Museum bewundern und bei feinster Volksmusik in die Welt des Lilienporzellans eintauchen.

Wenn eine Handwerkerin uns eine längst vergangene Tradition näherbringt, eine Artistin Kinderaugen mit scheinbar vergessenen Kunstformen zum Leuchten bringt, oder ein Oldtimer uns buchstäblich in einer anderen Zeit Platz nehmen lässt, dann kann man die Vielfalt der Nostalgie nicht nur sehen, sondern auch fühlen und erleben. Am 1. Juni, von 10.00 bis 17.00 Uhr im Brandlhof und Kulturpavillon Radlbrunn.

 

Titelbild: Clemens Suchocki, Fotos 1 VKNOE,  Foto 2: Manuela Mörzinger, Foto 3 zVg Raritäten Museum Röschitz, Foto 4 Daisyworld, Foto 5 VKNOE

Quellen:

Prof. Dr. Gernot Schiefers Forschungen

https://forschung.fom.de/2021/dezember/fom-hochschule-absolventin-und-professor-veroeffentlichen-gemeinsames-buch.html

Studie Constantine Sedikides

https://www.southampton.ac.uk/~crsi/Sedikides%20%20Wildschut%202020%20Advances%20%28002%29.pdf